Das Team von ZOZAN organisierte acht künstlerische Interventionen auf Basis der digitalisierten Sammlungen von Finke und Emir.
Die Künstler:innen und die jeweiligen Ergebnisse der Workshops bezogen sich auf eine Fülle von Themen: Individuelle Erinnerungen (oft gekennzeichnet durch Gewalt und Verlust) und ihr Zusammenhang mit kollektiven Erinnerungen, die von Schweigen und Unterdrückung geprägt sind; die jüngsten Herausforderungen in den kurdischen Herkunftsländern, die zu Migration führen, wie z.B. große Staudammprojekte; genderspezifische Gewalterfahrungen; Ausbeutung im Arbeitsumfeld in den Aufenthaltsländern, verbunden mit der fehlenden Sichtbarkeit der migrantischen communities; die Unmöglichkeit, sich auf künstlerische Weise auszudrücken; der Verlust des kulturellen Erbes, die Vernichtung von traditionellem Wissen und das Fehlen von Institutionen, die beides bewahren.
Die künstlerischen Arbeiten reichten von der Gestaltung von Briefmarken für eine nichtstaatliche Nation über die künstlerische Bearbeitung ethnografischer Fotos, die skulpturale Umarbeitung von Alltagsgegenständen in Stein, Tonaufnahmen individueller Erinnerungen, Videos, Nachstellungen traditioneller Praktiken wie der Butterherstellung, Konzeptarbeiten, Installationen, literarische Bearbeitungen, Zeichnungen und Gemälde. Sie wurden in Einzelausstellungen nach den Workshops und schließlich auch als Gesamtschau der Öffentlichkeit präsentiert. Parallel dazu wurde für jeden Workshop eine mehrseitige Broschüre erstellt, die sowohl die künstlerische Präsentation als auch den gesamten Workshop dokumentiert und am Ende des Projekts in einen Katalog einfließt.
Workshop 01
Lisl
Ponger

An zwei Wochenenden im Mai 2022 fand in Wien der erste kunstbasierte Workshop des Forschungsprojektes ZOZAN im Grätzl-Zentrum Kaisermühlen statt. Unter der Leitung der Künstlerin Lisl Ponger diskutierte eine Gruppe von zwölf Teilnehmer:innen verschiedene Themen zu kurdischer Alltags- und Erinnerungskultur, Migration, sozioökonomischen Transformationen der Herkunftsregionen, geopolitischen Entwicklungen, Gewalterfahrung, Verlust und Identität. Die Gruppe setzte sich zusammen aus Kurd:innen der verschiedenen Nationalstaaten des kurdischen Siedlungsgebietes sowie weiteren interessierten Teilnehmer:innen. Angeleitet von der Künstlerin wurde mittels assoziativer Recherche ein breites Themenspektrum aufgegriffen und visualisiert. Die Teilnehmer:innen waren eingeladen, Objekte, Bilder und Erinnerungsstücke mitzubringen und vier Briefmarkenbögen zu gestalten, die die Fülle der besprochenen Themen abbilden.
Ausgangspunkt der bildlichen Darstellungen waren die beiden umfassenden Multimediasammlungen – die Sammlung Werner Finke und die Sammlung Mehmet Emir. In kollektiven Prozessen erarbeitete die Workshopgruppe eine Auswahl der visuellen Materialien und erschuf durch Scans von Objekten und Malerei neue Bilder. Der Vorschlag der Künstlerin, Briefmarkenbögen zu gestalten, stieß auf große Begeisterung bei den Teilnehmer:innen, da das Medium Briefmarke verschiedene Ebenen der Staatenlosigkeit und transnationalen Verbindungen anspricht.
Entscheidungen über die Gestaltung der Kunstwerke wurden nach gleichberechtigten, nicht hierarchischen Diskussionen und in demokratischer Abstimmung anhand ästhetischer Kriterien getroffen. Zur Sprache kam auch, wie wichtig die Kontextualisierung der Motive ist, um keinen einseitigen Eindruck kurdischer Alltagskultur zu vermitteln. Der Fokus lag auf ländlicher Kultur und Erinnerungsstücken aus der Diaspora, wenngleich es auch diverse städtische kurdische Kulturen und Jugendkulturen gab und gibt.
Die Präsentation der kollektiven Kunstwerke fand im Dezember 2022 im Volkskundemuseum Wien statt.
Workshop 02
Songül Boyraz

Während eines einwöchigen Aufenthaltes im Juni 2022 in Vorarlberg entwickelte die in Wien lebende Künstlerin Songül Boyraz mit Mitgliedern der kurdischen Communities eine Videoarbeit. In Gesprächen und musikalischen Performances im vorarlberg museum, der Offenen Jugend- & Kulturarbeit Bregenz sowie den Frei-Aleviten Vorarlberg in Weiler fanden Auseinandersetzungen zu Themen wie Identität, Fremdsein, Heimatverlust und Erinnerung statt. Die Künstlerin führte danach Einzelgespräche und zeichnete diese Interviews auf Video auf. Im Film werden diese Gespräche mit Archivmaterial aus den Sammlungen Werner Finke und Mehmet Emir verwoben. Zusammen mit autobiografischem Material aus dem eigenen Familienarchiv erarbeitete Songül Boyraz einen 28-minütigen Film mit dem Titel Remembering ZOZAN („Erinnerungen an die Sommeralm“).
Die Filmvorführung fand im Oktober 2023 im vorarlberg museum statt.
Workshop 03
Rojda Tuğrul

Der dritte kunstbasierte ZOZAN-Workshop fand unter der Leitung der Künstlerin Rojda Tuğrul im November 2022 im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien statt. Dieser Workshop richtete sich sowohl an Menschen mit Enteignungserfahrungen als auch an Menschen, deren Vorfahren Enteignungen erfahren haben. Verschiedene Übungen luden dazu ein, unterschiedliche Welten innerhalb jener, in der wir leben, zu imaginieren.
Die Workshop-Teilnehmer:innen wurden ermutigt, die multimedialen ZOZAN-Materialien mit ihren Sinnen kreativ zu erkunden und Zeichnungen, Fotos, Texte, mündliche Überlieferungen sowie Audio- und Videoaufnahmen beizusteuern.
Rojda Tuğrul forderte die Workshop-Teilnehmer:innen auf, über die folgenden Fragen nachzudenken: Wie sprechen wir mit dem Land, in dem wir leben, oder wie hören wir ihm zu? Wie können wir eine Verbindung zu dem neuen Land entwickeln, in das wir umgesiedelt wurden oder in das wir gezwungen wurden umzuziehen? Können wir eine neue Erzählung entwickeln, die die Vergangenheit und auch die Zukunft in den Blick nimmt?
Rojda Tuğrul verfolgte künstlerische Ansätze von „Re-Animating“ und „On Touching“. Die Künstlerin erarbeitete mit den Teilnehmer:innen, wie wir in unserem und durch unseren Körper bestimmte Beziehungen, Diskrepanzen und Verstrickungen aktivieren können. Sie untersuchte, ob das Zeichnen eine Methode sein kann, um neue Verbindungen als Erweiterung unserer Erinnerungen herzustellen und neue Erinnerungen zu schaffen. Neben weiteren Methoden wie dem „deep listening“ konzentrierte sich der Workshop auf die Gestaltung von persönlichen Erzählungen.
Die Präsentation der kollektiven Kunstwerke fand im Dezember 2022 im Österreichischen Museum für Volkskunde in Wien statt.
Workshop 04
Thomas Freiler

Von Anfang März bis Ende Juni 2023 fand die vierte ZOZAN-Kunstintervention an der Akademie der bildenden Künste unter der Leitung von Thomas Freiler im Rahmen des Methodenseminars „Fotografie IV“ statt. Die Studierenden Friedrich Becke, Dila Kaplan, Jonas Nieft, Irene Wallner und Ruth Weismann setzten sich anhand der Multimediasammlungen mit Fotografie im Kontext von Digitalisierung und Archivierung auseinander und erörterten die Bedeutung eines ethnographischen Archivs für die beforschten Gemeinschaften. Neben der Diskussion über wissenschaftliche und künstlerische Herangehensweisen arbeiteten die Lehrveranstaltungsteilnehmer:innen an künstlerischen Reflexionen über die Sammlungen. Die Grundidee war, künstlerische Projekte ausgehend vom Sammlungsmaterial zu konzipieren und bis Semesterende umzusetzen.
Einer breiten diskursiven Auseinandersetzung folgten schließlich individuelle Kunstwerke und kollektive Kunstprozesse, die auch einen ausgeprägten partizipativen Charakter hatten. Kurd:innen und Nicht-Kurd:innen wurden Teile der Sammlung präsentiert und sie wurden zu einem kollektiven Re-enactment einer bestimmten weiblichen Haushaltstätigkeit, dem Buttern, eingeladen. Die eigene körperliche Erfahrung, das haptische Herangehen der Teilnehmer:innen an Wissensvermittlung und die neue Dokumentation eines an der Akademie der bildenden Künste erfolgten „Butter-Workshops“ unter Anleitung von Zeynep Kaplan zeigte die Bandbreite an Möglichkeiten, die ein kunstbasierter Zugang bietet – für die Erinnerung, die Erfahrung, die Tradierung und das Soziale. Die individuellen Arbeiten folgten unterschiedlichen sozialwissenschaftlichen und künstlerischen Zugängen.
Der Butter-Workshop fand am 17. Juni 2023 an der Akademie der Bildende Künste Wien statt.
Workshop 05
Savaş Boyraz
&
Duygu Örs

Der fünfte kunstbasierte ZOZAN-Workshop fand unter der Leitung des Künstlers Savaş Boyraz und der Forscherin, Kuratorin und Kunstvermittlerin Duygu Örs im Juni 2023 im „Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt“ (kurz: MARKK) in Hamburg statt. Die Leiter:innen des Workshops konzentrierten sich auf die Bedeutung von Archiven und Museumssammlungen und sprachen über bereits existierende, imaginierte sowie in Zukunft zu schaffende Archive. Ausgangspunkt waren die beiden multimedialen Sammlungen von Werner Finke und Mehmet Emir, die das Leben auf der Alm darstellen, sowie ethnographische Artefakte aus der Sammlung des MARKK.
Dabei gingen die Teilnehmenden den Fragen nach: Wie verhalten wir uns als zugewanderte Bewohner:innen in modernen europäischen Städten zu Bildern zu unserer fernen und nahen Vergangenheit? Wie sollen wir uns (jetzt oder irgendwann) in einem fremden Land zurechtfinden? Auf welche Art von Wissensrepertoire greifen wir zurück? Die Teilnehmenden analysierten ausgewählte Inhalte der Multimediasammlungen und diskutierten ihre Inhalte in einer breiteren gesellschaftspolitischen Bedeutung. Sie stellten Fotos und Objekte aus ihren eigenen privaten Archiven vor. Anschließend luden der Künstler und die Kuratorin die Teilnehmenden dazu ein, zu einem kollektiven Kunstwerk beizutragen, wobei hauptsächlich Zeichentechniken eingesetzt wurden. Für die Ausstellung arrangierte Savaş Boyraz die Themen und Materialien neu, nahm Bezug auf kurdische Zelte und brachte sie so in die Gegenwart. In Auseinandersetzung mit der Museumssammlung realisierte er weitere künstlerische Arbeiten.
Die Ausstellung Zozan: tracing traces im Zwischenraum (MARKK Hamburg) war zu sehen von 6. Oktober 2023 bis 7. Jänner 2024.
Workshop 06
Ezgi
Erol

Im November 2023 fand die sechste ZOZAN-Kunstintervention im Schaumbad Freies Atelierhaus Graz unter der Leitung der Künstlerin Ezgi Erol statt. Die Teilnehmenden setzten sich anhand der Multimediasammlungen mit Erinnerungsformen und Erinnerungsräumen auseinander. Weit über versuchte Interpretationen und Analysen der Foto- und Filmmaterialien hinaus tauschten die Teilnehmer:innen ihre ganz persönlichen Erinnerungen zu Familienbiografien und Beziehungen zu kurdischen Regionen aus. Außerdem wurden Gemeinsamkeiten in den Auswirkungen von Großbauprojekten aufgezeigt und Einflüsse auf Natur und Lebensräume sichtbar gemacht.
Durch den kunstbasierten Ansatz konnte ein gemeinsamer Raum (im Sinne von space) hergestellt werden, in dem die Teilnehmenden unterschiedliche künstlerische Ausdrucksformen ausprobierten. Einer breiten diskursiven Auseinandersetzung folgten individuelle Arbeiten, die schließlich zu einem kollektiven Werk und einer gemeinsamen Präsentation zusammengefügt wurden.
Die Ausstellung fand unter dem Titel ZOZAN – T`RÄUME im Schaumbad Freies Atelierhaus Graz von 20. Jänner bis 17. Februar 2024 statt.
Workshop 07
DARO

Der siebente kunstbasierte ZOZAN-Workshop fand von Dezember 2023 bis Februar 2024 in Sulaimaniyya (Slemani, Autonome Region Kurdistan Irak) unter der Leitung des Künstlers und Kurators DARO und unter Beteiligung der Künstler:innen Halgurd Ahmad, Karzan A. Jan, Layla Qadir & Kosar Majeed, Niga Salam, Sabah Ahmed und Srusht Omer statt. Der Workshop wurde auf Kurdisch und Englisch abgehalten und in einem intensivem Online-Austausch mit dem ZOZAN-Team organisiert.
Der Kurator und die neun Künstler:innen (drei Frauen und sechs Männer) beschäftigten sich mit den Triebkräften der Migration (z. B. Wasserknappheit im Nahen Osten und Staudammprojekte), verschiedenen Umweltthemen, Fragen traditioneller Mobilitätsformen wie der Transhumanz (Almwirtschaft) und ihren Transformationen sowie mit dem damit verbundenen Verlust von Wissenssystemen. Darüber hinaus wurden die Arbeitswelten von Frauen als zentrales Thema der Diskussion und der Kunst behandelt. Die Bewahrung des kulturellen Erbes (vor allem der materiellen Kultur) und die Gestaltung von Erinnerungssystemen waren von weiterer Bedeutung.
Ausgangspunkt des Workshops waren die beiden multimedialen Sammlungen von Werner Finke und Mehmet Emir, die sozioökonomische Entwicklungen und Transformationen in den nordkurdisch besiedelten Gebieten dokumentieren. Bei den Teilnehmenden des Workshops – alle aus den südlichen Regionen der kurdischen Gebiete – lösten diese Sammlungen viele Diskussionen und intensive Recherchen aus.
Die teilnehmenden Künstler:innen fanden sich im Laufe des Projekts als Kollektiv zusammen. Sie beschlossen, individuelle Kunstprojekte mit unterschiedlichen methodischen und künstlerischen Ansätzen zu schaffen. Die verschiedenen Kunstwerke wurden während und nach dem Workshop realisiert.
Sie wurden als Ausstellung von DARO kuratiert und in der ESTA Gallery in Sulaimaniyya vom 18. Mai 2024 bis 18. Juni 2024 gezeigt.
Workshop 08
Melis
Kaya

Der achte kunstbasierte ZOZAN-Workshop fand im März 2024 unter der Leitung der Kuratorin Melis Kaya im Kurdischen Institut in Paris statt. Dieser Workshop richtete sich an Menschen, die sich für die moderne kurdische Geschichte, visuelle Anthropologie, Erinnerungsstudien und Geschichtenerzählen interessieren.
Im Zusammenhang mit der „Staatenlosigkeit“ erleben Kurd:innen oft nur den Weg der „offiziellen“ Erinnerung und Geschichtsschreibung und erfahren Schweigen, Verleugnung und die Verpflichtung zu vergessen. Melis Kaya ermutigte Teilnehmer:innen, die kollektiven und persönlichen Erinnerungen zu diskutieren, die (un)geschriebenen kurdischen Geschichten zu erforschen, sie zu dokumentieren und sie neu zusammen zu stellen. Dabei handelt es sich oft um Erinnerungen, die von der offiziellen Geschichtsschreibung oder den herrschenden Mächten in gewisser Weise konfisziert wurden. Um eine Form der Darstellung dieser oft unterdrückten und nicht erzählten Erinnerungen zu finden, erforschte die Gruppe gemeinsam die fotografischen Sammlungen von Werner Finke und Mehmet Emir sowie persönliche Archive und die Sammlungen des Kurdischen Instituts wie Multimedia-Materialien, Kunstproduktion, Literatur, sowie sozialwissenschaften und journalistische Archive. Ziel der Kuratorin war es, eine neue Lesart von Geschichte und Erinnerung zu entwickeln und sich dabei auf die Fakten zu konzentrieren, auf deren Grundlage die Teilnehmer:innen ihren eigenen Erinnerungen und Identitäten nachzugehen, die oft gegenteilig zu den Identitätskonstruktionen stehen, denen sie ausgesetzt waren.
Im Laufe des Workshops erstellten Adnan Dilovan Kegi, Aram Tastekin, Asmin Buhan, Dilan Salik und Meltem Yildiz dreidimensionale Gedächtnistafeln, in denen die Erfahrungen mit der modernen kurdischen Geschichte und Identität, mittels Archivmaterial, den Multimedia-Sammlungen und persönlichen Erinnerung miteinander verbunden wurden.
Das Institut kurde de Paris lud am 15. Juni 2024 zur Vernissage der dreiwöchigen Ausstellung ein.